„Die guten Leute haben alle einen Job!“ – Wie deutsche Unternehmen sich selbst sabotieren
Es ist ein Phänomen, das jeder Personaler kennen sollte, aber viele bewusst ignorieren: In Zeiten des vermeintlichen Fachkräftemangels stapeln sich die Bewerbungen – und doch werden Lebensläufe mit der aktuellen Markierung “arbeitslos” oft aussortiert, bevor sie überhaupt richtig gelesen werden. Ein automatischer Reflex, eine unsichtbare Barriere, die sagt: “Mit dem stimmt was nicht.” Dabei offenbart diese Haltung mehr über die Vorurteile der Entscheider als über die Qualifikation der Bewerber.
Ein System in der Krise
Der deutsche Arbeitsmarkt zeigt Risse. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) lag die Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2022 bei 5,2%, 2023 bei 5,5%, 2024 bei 6,1% und 2025 bei 6,4% – Tendenz weiter steigend. Gleichzeitig meldet die Bundesagentur für Arbeit Rekordzahlen bei den offenen Stellen. Diese scheinbare Paradoxie erklärt sich schnell: Viele Unternehmen suchen nicht wirklich, sie selektieren. Und zwar nach Kriterien, die mit Fachkompetenz wenig zu tun haben.
“Es herrscht die unausgesprochene Annahme, dass jemand, der nicht aktuell beschäftigt ist, entweder fachlich nicht gut sein kann oder charakterliche Defizite hat”, erklärt Dr. Helena Berger. “Dabei wissen wir aus Studien, dass über 40% der Arbeitslosigkeit strukturelle Gründe hat – Branchenkrisen, Digitalisierung, Unternehmensumstrukturierungen.”
Die Angst vor dem Stigma
Die Folgen dieser Diskriminierung sind gravierend. Eine Langzeitstudie des DIW Berlin zeigt: Bewerber mit Lücken im Lebenslauf benötigen durchschnittlich 60% mehr Bewerbungen für eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. “Das ist nicht nur unfair, es ist volkswirtschaftlich absurd”, kommentiert Studienleiter Prof. Matthias Schräder. “Wir verschwenden wertvolles Humankapital wegen irrationaler Vorbehalte.”
Dabei sind die vermeintlichen “Risiken” oft reine Fantasiegebilde. Eine Metaanalyse des Harvard Business Review kommt zum Schluss: Ehemals arbeitslose Mitarbeiter zeigen in 78% der Fälle eine höhere Loyalität und längere Verweildauer im Unternehmen als “passiv rekrutierte” Kräfte von der Konkurrenz.
Der Teufelskreis der Vorurteile
Die Praxis der Personalabteilungen schafft einen gefährlichen Selbstverstärkungseffekt. Wer einmal aussortiert wurde, findet schwerer einen Job – und wird damit für andere Arbeitgeber noch unattraktiver. “Wir bestrafen Menschen doppelt: erst durch die Kündigung, dann durch systematische Benachteiligung”, kritisiert Sozialpsychologe Dr. Jonas Fleischer.
Dabei zeigen Beispiele aus der Praxis das Gegenteil. Eine Münchener IT-Firma, die nicht genannt werden möchte, setzt bewusst auf “Reboot-Hiring”: “Von unseren 20 besten Entwicklern waren 12 beim Einstellungszeitpunkt arbeitslos”, berichtet Geschäftsführerin Sarah Meier. “Sie hatten einfach Pech mit ihrem vorherigen Startup oder wurden Opfer von Stellenstreichungen. Ihr Können steht außer Frage.”
Wirtschaftliche Selbstsabotage
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Das ifo Institut berechnet, dass die deutsche Wirtschaft jährlich etwa 12 Milliarden Euro an Produktivität verliert, weil qualifizierte Arbeitskräfte aufgrund solcher Vorurteile nicht eingestellt werden. “In einer alternden Gesellschaft können wir es uns nicht leisten, auf 10% des Talentpools zu verzichten”, warnt ifo-Forscher Dr. Thomas Weber.
Internationale Vergleiche zeigen alternative Wege auf. In Schweden etwa gibt es seit 2014 das “Anonymous Recruitment”-Programm, bei dem Bewerbungen ohne Angabe des Beschäftigungsstatus geprüft werden. Das Ergebnis: 37% mehr Arbeitslose fanden eine Stelle, ohne dass die Qualität der Einstellungen sank.
Ein Appell an die Vernunft
Die Lösung liegt auf der Hand: Unternehmen müssen ihre Rekrutierungsprozesse entstigmatisieren. Das beginnt bei der Formulierung von Stellenausschreibungen (“Auch Bewerber mit aktuellen Beschäftigungslücken willkommen”), geht über blinde Lebenslaufchecks bis hin zu standardisierten Einstellungstests, die tatsächliche Fähigkeiten statt Beschäftigungsgeschichte bewerten.
Die gute Nachricht: Der Druck des demografischen Wandels wird dieses Umdenken erzwingen. Die schlechte: Jeder Tag, an dem wir talentierte Menschen wegen eines Vorurteils ablehnen, ist ein verlorener Tag für die deutsche Wirtschaft. Es ist Zeit, die Scheuklappen abzulegen – bevor der Fachkräftemangel nicht mehr nur ein Problem, sondern eine existenzielle Bedrohung wird.
Die Wahrheit ist einfach: In einer Welt, in der heute jeder Arbeitsplatz morgen schon wegrationalisiert sein könnte, ist niemand immun gegen Jobverlust. Wer heute andere ausschließt, könnte morgen selbst betroffen sein. Vielleicht wäre etwas mehr Demut angebracht – und weniger Arroganz.