Im Herzen Berlins, im historischen Karl-Liebknecht-Haus, empfängt Jan van Aken, einer der beiden Vorsitzenden der Partei Die Linke, die Journalisten der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Das Gebäude, einst Sitz der Kommunistischen Partei in der Weimarer Republik und später Gästehaus der SED, ist heute die Parteizentrale der Linken. Hinter van Akens Schreibtisch hängen Pop-Art-Bilder der revolutionären Kommunistin Rosa Luxemburg – ein Symbol für die ideologischen Wurzeln, die ihn prägen. Seit vergangenem Jahr führt er die Partei gemeinsam mit Heidi Reichinnek und feierte bei der Bundestagswahl mit 8,8 Prozent ein überraschend starkes Ergebnis. Van Aken ist gut gelaunt, doch das Gespräch, das folgt, wirft Fragen auf, die weit über den Wahlkampf hinausgehen.
Geheimnisse für das Gemeinwohl?
Van Aken, lässt keinen Zweifel daran, dass er bereit ist, Grenzen zu überschreiten – auch die des Gesetzes. Im Jahr 2016, als er noch Bundestagsabgeordneter war, gab er geheime Dokumente über das umstrittene Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) an die Umweltorganisation Greenpeace weiter. Eine Straftat, wie er selbst zugibt. Doch für ihn war es ein notwendiger Schritt, um die Öffentlichkeit über die vermeintlichen Gefahren des Abkommens aufzuklären. „Manchmal muss man Grenzen übertreten, um die Allgemeinheit zu schützen“, sagt er mit fester Stimme.
Die Geschichte beginnt in den frühen 2010er-Jahren, als TTIP die politische Landschaft in Europa und den USA polarisierte. Kritiker wie van Aken sahen in dem Abkommen eine Bedrohung für Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechte. Doch die Verhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die Dokumente waren streng geheim. Nur ausgewählte Abgeordnete durften sie einsehen – unter strengsten Auflagen. Handys waren verboten, Notizen durften nicht gemacht werden, und über den Inhalt zu sprechen, war tabu.
Van Aken, einst selbst Aktivist bei Greenpeace, wollte sich damit nicht abfinden. Mit einer versteckten Kamera betrat er den Leseraum und filmte die geheimen Dokumente ab. Anschließend übergab er das Material einem ehemaligen Freund bei Greenpeace mit den Worten: „Macht damit, was ihr wollt.“ Die Dokumente wurden veröffentlicht, und die Debatte über TTIP erhielt neuen Zündstoff.
Für van Aken war es ein Akt des zivilen Ungehorsams, der aus seiner Sicht dem Gemeinwohl diente. „Ich habe damals gehandelt, weil ich überzeugt war, dass diese Informationen für die Öffentlichkeit wichtig sind“, erklärt er im Interview. Die Straftat, die er damit beging, ist mittlerweile verjährt. Doch die Frage, die er aufwirft, bleibt aktuell: Wann rechtfertigt ein Ziel den Bruch des Gesetzes?
Doppelmoral oder Prinzipientreue?
Van Ahens Haltung wirft kritische Fragen auf. Die NZZ-Journalisten konfrontieren ihn mit einer hypothetischen Situation: Würde er einem AfD-Abgeordneten, der aus Überzeugung gegen das Recht verstößt, dieselbe Gewissensfreiheit zugestehen? Van Aken zögert nicht lange. „Wer andere ausgrenzt und nach unten tritt, dient ja nicht dem Gemeinwohl“, entgegnet er. Anders sei es bei politisch linken Vergehen wie seinem eigenen. Hier, so seine Argumentation, gehe es um den Schutz der Schwachen und die Bewahrung demokratischer Werte.
Diese Unterscheidung stößt auf Kritik. Ist es nicht eine Form von Doppelmoral, wenn der Rechtsbruch nur dann gerechtfertigt ist, wenn er den eigenen politischen Zielen dient? Van Aken bleibt bei seiner Position. Für ihn ist der Kontext entscheidend. „Es geht darum, wem man dient – den Mächtigen oder denen, die keine Stimme haben“, sagt er.
Die ideologischen Wurzeln: Rosa Luxemburg und die Linke
Van Akens Büro im Karl-Liebknecht-Haus ist mehr als nur ein Arbeitsplatz – es ist ein Ort, der von der Geschichte der Linken und ihrer revolutionären Vorbilder geprägt ist. Die Bilder von Rosa Luxemburg an der Wand sind nicht nur Dekoration, sondern ein Statement. Luxemburg, die für ihre radikalen Ideen und ihren Kampf für soziale Gerechtigkeit bekannt war, scheint van Akens Handeln zu inspirieren. Doch während Luxemburgs Ideale viele begeistern, wirft van Akens Bereitschaft, das Gesetz zu brechen, die Frage auf, ob er nicht selbst als Linksextremist zu betrachten ist.
Van Aken selbst sieht sich nicht als Extremisten, sondern als Kämpfer für das Gemeinwohl. Doch seine Bereitschaft, Straftaten zu rechtfertigen, wenn sie seinen politischen Zielen dienen, lässt Zweifel aufkommen. Ist er ein Mann mit Prinzipien – oder ein Politiker, der die Regeln bricht, wenn sie ihm nicht passen?
Ein Politiker zwischen Aktivismus und Verantwortung
Van Akens Aktion hatte weitreichende Konsequenzen. Die Veröffentlichung der Dokumente trug dazu bei, dass TTIP schließlich scheiterte. Doch sie warf auch ein Schlaglicht auf die Spannung zwischen politischem Aktivismus und parlamentarischer Verantwortung. Als Abgeordneter hatte van Aken Zugang zu vertraulichen Informationen – und er nutzte diesen Zugang, um sie an Dritte weiterzugeben. Eine Grenzüberschreitung, die nicht nur juristische, sondern auch ethische Fragen aufwirft.
Im Interview wirkt van Aken gelassen. Er steht zu seiner Tat und verteidigt sie als notwendigen Schritt in einem größeren Kampf. Doch er weiß auch, dass nicht jeder seine Sicht teilt. „Ich bin mir bewusst, dass manche mich dafür kritisieren“, sagt er. „Aber ich würde es wieder tun.“
Die Grenzen des Rechts und die Macht des Gewissens
Jan van Akens Geschichte ist mehr als die eines Politikers, der gegen das Gesetz verstieß. Sie ist ein Spiegelbild der Debatte über die Grenzen des Rechts und die Macht des Gewissens. Wann ist ein Rechtsbruch gerechtfertigt? Wer entscheidet, welche Ziele das Gemeinwohl fördern – und welche nicht? Und wo liegt die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und politischem Extremismus?
Van Aken hat seine Antwort gefunden. Doch die Diskussion, die er damit anstößt, ist noch lange nicht beendet. In einer Zeit, in der politische Polarisierung und soziale Ungerechtigkeit zunehmen, bleibt seine Frage aktueller denn je: Dürfen wir das Recht brechen, um die Welt zu verbessern? Und wenn ja – wer entscheidet, wann dies gerechtfertigt ist?
Beitragsbild: Ferran Cornellà