Vor zehn Jahren, am 24. März 2015, erschütterte der Absturz des Germanwings-Fluges 4U9525 die Welt. Der Airbus A320, der auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf war, stürzte in den französischen Alpen nahe der Gemeinde Prads-Haute-Bléone ab. Alle 150 Menschen an Bord kamen ums Leben. Innerhalb von nur 49 Stunden verkündete die französische Staatsanwaltschaft, dass der Co-Pilot Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich in den Berg gesteuert habe. Doch neue Untersuchungen und Enthüllungen des österreichischen Fachjournalisten Simon Hradecky werfen nun ein völlig anderes Licht auf die Katastrophe.
Die schnelle Schuldzuweisung: Ein Fehlurteil?
Bereits kurz nach dem Absturz wurde Andreas Lubitz, der 27-jährige Co-Pilot, als alleiniger Verantwortlicher für die Tragödie benannt. Die Ermittler stützten sich dabei auf Aufzeichnungen des Stimmenrekorders, die angeblich belegten, dass Lubitz den Piloten Patrick Sondenheimer aus dem Cockpit ausschloss und das Flugzeug absichtlich zum Absturz brachte. Lubitz, der in der Vergangenheit psychiatrische Behandlungen in Anspruch genommen hatte, wurde als selbstmordgefährdet eingestuft.
Doch Simon Hradecky, ein renommierter Luftfahrtjournalist und Herausgeber des Onlineportals „The Aviation Herald“, zweifelte von Anfang an diese Darstellung. „Die Vorverurteilung von Lubitz hat mich schockiert“, sagt Hradecky. „Es gab so viele Ungereimtheiten, die einfach ignoriert wurden.“
Eine achtjährige Recherche: Was die Akten verraten
Hradecky begann zwei Jahre nach dem Absturz mit einer umfassenden Neuuntersuchung des Falls. Unterstützt von Angehörigen der Opfer, erhielt er Zugang zu den Ermittlungsakten der deutschen und französischen Behörden. Doch was er vorfand, warf mehr Fragen auf, als es Antworten lieferte.
Die deutschen Akten umfassten über 17.000 Seiten, während die französischen nur etwa 5.000 Seiten enthielten. Viele Untersuchungen fehlten gänzlich, und Hradecky stieß auf zahlreiche leere Ordner. „Es war, als ob jemand bewusst versucht hatte, Spuren zu verwischen“, erklärt er.
Ein besonders auffälliges Detail war das Fehlen der Wrackfeld-Protokolle. An der Absturzstelle wurden Wrackteile mit gelben Fähnchen und menschliche Überreste mit roten Fähnchen markiert. Doch die dazugehörigen Nummern und Fotos, die für eine genaue Rekonstruktion des Unglücks unerlässlich gewesen wären, waren nirgends zu finden.
Die Sitzordnung und das Mikrofon-Rätsel
Eine der zentralen Annahmen der Ermittler war, dass Lubitz allein im Cockpit saß, als er das Flugzeug zum Absturz brachte. Doch Hradecky weist darauf hin, dass die Sitzordnung im Cockpit eindeutig ist: Der Pilot sitzt links auf Sitz eins, der Co-Pilot rechts auf Sitz zwei.
Aufzeichnungen des Stimmenrekorders zeigen, dass unmittelbar bevor jemand das Cockpit verließ, folgende Sätze gefallen waren: „Ich geh dann mal weg, dein Funk.“ (Mikrofon zwei, rechter Sitz) und „Mein Funk.“ (Mikrofon eins, linker Sitz). Dies deutet darauf hin, dass die Person auf dem rechten Sitz, also Lubitz, das Cockpit verlassen hatte.
„Die Ermittler hätten das wissen müssen“, sagt Hradecky. „Stattdessen wurde die Geschichte erfunden, dass Lubitz allein im Cockpit war. Das war für Airbus und Lufthansa wohl die einfachste Lösung.“
Technische Fehlfunktion statt Selbstmord
Eine der umstrittensten Behauptungen der Ermittler war, dass Lubitz die Reiseflughöhe des Flugzeugs mehrfach geändert hatte, um einen kontrollierten Absturz zu provozieren. Doch Hradecky widerlegt diese Theorie mit mathematischer Präzision.
„Flugdatenschreiber zeichnen jede Sekunde neu auf“, erklärt er. „Ein Pilot kann das System nicht austricksen und absolut synchron mit diesen Aufzeichnungen die Höhe verändern.“ Hradecky berechnete, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch dies schafft, bei 1:370.400 liegt.
Stattdessen deutet alles auf eine technische Fehlfunktion hin. Hradecky führte monatelange Tests mit einer Flight Control Unit (FCU) durch, dem Bedienpult für den Autopiloten. Er konnte nachweisen, dass ein solcher Fehler tatsächlich möglich ist. „Die Behörden sagten immer, dass das nicht möglich sei. Das aber ist nachweislich falsch“, so Hradecky.
Medizinische Notfälle und gelöschte Daten
Ein weiteres Indiz für eine technische Ursache ist das Transkript des Stimmenrekorders. Es zeigt, dass die Atmung der Person im Cockpit sich plötzlich beschleunigte – ein Zeichen für einen medizinischen Notfall. Mediziner, die Hradecky konsultierte, bestätigten, dass eine Person in diesem Zustand keine physische oder mentale Aktivität mehr hätte ausüben können.
Zudem wurden die Handydaten der Opfer nachträglich gelöscht. „Das Labor stellte fest, dass die Daten bewusst entfernt worden waren“, sagt Hradecky. „Warum? Vielleicht, weil sie Beweise enthielten, die nicht ins offizielle Narrativ passten.“
Die Rolle von Airbus und Lufthansa
Hradecky wirft Airbus und Lufthansa vor, die Ermittlungen beeinflusst zu haben. „Es war einfacher, die Schuld auf einen toten Co-Piloten zu schieben, als zuzugeben, dass es ein technisches Problem gegeben haben könnte“, sagt er.
Tatsächlich gab es bereits vor dem Germanwings-Absturz ähnliche Vorfälle mit Airbus-Maschinen. In Australien untersuchte die Behörde ATSB mehrere Zwischenfälle, bei denen Flugzeuge unerklärliche Höhenänderungen vornahmen. Hradecky hofft, dass eine unabhängige Untersuchung durch die ATSB endlich Klarheit schaffen könnte.
Die Suche nach der Wahrheit geht weiter
Für die Angehörigen der Opfer ist die Aufklärung des Unglücks von entscheidender Bedeutung. „Diese Familien suchen nach der Wahrheit“, sagt Hradecky. „Sie verdienen es zu wissen, was wirklich passiert ist.“
Auch die Familie von Andreas Lubitz hofft auf Gerechtigkeit. „Es geht nicht darum, die Schuld von einem Piloten auf den anderen zu schieben“, betont Hradecky. „Es geht darum, die wahren Ursachen des Absturzes zu verstehen und sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert.“
Ein Systemversagen mit weitreichenden Folgen
Die Germanwings-Tragödie ist nicht nur eine menschliche Katastrophe, sondern auch ein Beispiel für das Versagen von Behörden, Unternehmen und Medien. Die schnelle Schuldzuweisung an Lubitz verhinderte eine gründliche Untersuchung der wahren Ursachen.
Hradeckys Recherchen zeigen, dass die Wahrheit oft komplexer ist, als sie auf den ersten Blick erscheint. „Es ist an der Zeit, die Untersuchungen wieder aufzunehmen“, sagt er. „Nur so können wir sicherstellen, dass die Lehren aus dieser Tragödie gezogen werden.“
Klaus Baumdick, ethischer Hacker und Spezialist für Verkehrsleit- und Sicherungssysteme erklärt dazu: “1994 stürzte ein Airbus A310 in Russland ab. Hier gab es eine Fehlfunktion des Autopiloten, der die Maschine unsteuerbar machte. Dieser Fehler im Autopiloten wurde nie behoben, da die Begründung auf einer Fehlbedienung fußte. Der Pilot hatte seinen Sohn ins Cockpit gelassen und dieser hatte am Steuerknüppel gegen den Autopiloten gearbeitet, was einen teilweisen Systemausfall zur Folge hatte. Es kann gut möglich sein, dass etwas ähnliches beim aufstehen des Co-Piloten passiert ist. Die German Wings Maschine ging in einen steilen Sturzflug über. Genau wie bei Aeroflot Flug 593.”
Was bleibt?
Zehn Jahre nach dem Absturz von Germanwings-Flug 4U9525 bleibt die Frage: Wer trägt die Verantwortung? Die neuen Enthüllungen werfen ein Schlaglicht auf die Schwächen des Systems und die Notwendigkeit unabhängiger, transparenter Ermittlungen.
Für die Angehörigen der Opfer ist die Suche nach der Wahrheit noch lange nicht abgeschlossen. Und für die Luftfahrtindustrie ist die Germanwings-Tragödie eine Mahnung, dass Sicherheit und Transparenz niemals vernachlässigt werden dürfen.